Bernhard Peter
Besonderheiten britischer Heraldik

Was ist typisch britisch an britischer Heraldik?

Wappenscheidung in England:
Ferner hat die englische Heraldik das System der Wappendifferenzierung und Veränderung durch kleinere Nebenfiguren (Beizeichen wie eingefügte Rosen, Turnierkragen etc.) für nachgeborene Kinder zur Perfektion entwickelt. Jeder Sohn bekommt ein anderes Beizeichen. Das System ist eindeutig, mindert aber die Übersichtlichkeit. Andererseits führen die komplizierten Regeln dazu, daß sich stets erkennen läßt, welchem Familienmitglied ein bestimmtes Wappen zuzuordnen ist. Früher wurden solche Beizeichen (cadency marks) direkt auf den Schild gesetzt, heute gängige Praxis ist es, sie auf die Lätze eines Turnierkragens zu platzieren.

Auch die schottische Heraldik kennt ein Differenzierungssystem, das aber noch ein wenig komplizierter ist und sich auf die Gestaltung von Borden stützt.

Vermehren - zwei unterschiedliche Methoden:
In Deutschland entstehen vermehrte Wappen, zum Beispiel ein gevierter Schild, durch Erwerb neuer Titel, neuer Besitzungen oder durch Erhalt von Ämtern, durch Gnadenakt anläßlich einer Standeserhebung (Wappenbesserung) oder durch Erbschaft von Ländereien.
In England hingegen gibt es diese Eigendynamik hinsichtlich der Felder nicht ohne obrigkeitliches Zutun. Dafür ist es aber allgemein üblich, daß ein Wappen durch Heirat mit einer Erbtochter vermehrt wird.
In Deutschland kommt beim vermehrten Wappen meist das Stammwappen in den Herzschild.
In England wird das Wappen der Ehefrau - sofern Erbtochter - vom Ehemann als Herzschild in die Mitte seines Schildes gesetzt, quasi zur Verdeutlichung seines Anspruches. Erst die Söhne machen daraus ein geviertes Wappen. Und so geht es weiter, und bei einigen Erbtöchtern in der Familie kommen viele Felder zusammen.
Diese strenge Systematik kann durchaus dazu führen, daß manche Felder auch mehrfach in einem komplex vermehrten Wappen auftauchen, je nach Anzahl gemeinsamer Vorfahren.
In Wales ist das Verfahren noch komplizierter.

Beispiele englischer Wappenaufrisse aus der Dekadenzzeit:
Es folgen zwei stilistisch dekadente Wappendarstellungen, gezeichnet von Charles Catton und gestochen von Francis Chesham, aus dem Werk "English Peerage", Ende des 18. Jh. Beide zeigen zeittypische Verfallserscheinungen in der heraldischen Darstellung. In beiden Fällen ist der Schild zu einer asymmetrischen Rokoko-Kartusche verzerrt mit unregelmäßig abwechselnden konkaven und konvexen Partien, unbegründeter seitlicher Neigung bzw. Verzerrung, in beiden Fällen sind die einer herzoglichen Rangkrone aufsitzenden Helme viel zu klein, der Hals ist viel zu eng, die ganze Darstellung entspricht nicht einem funktionsfähigen Rüstungsteil, und die Helme sind überhöht von einer noch unterproportionierteren Helmzier, die weitab von hochmittelalterlichen Proportionen eine lächerlich kleine Randerscheinung ist. Die Helmdecken reichen gerade mal bis zur Krone, den Schild erreichen sie nicht. Viel größeres Augenmerk wurde auf die Darstellung der Schildhalter gelegt, die mit außerordentlicher Feinheit und Detailversessenheit und hoher Plastizität so naturalistisch wie möglich modelliert wurden. Dabei ist der Ausdruck Schildhalter relativ, denn sie kommen nicht mehr ihrer eigentlichen Aufgabe nach, den Schild zu halten und zu stützen, vielmehr kommen ihre Leiber hinter dem Schild hervor, ihre Körper sind nach außen gerichtet, im Falle Chatham wenden sie sogar fast desinteressiert zu nennen den Kopf nach außen, kein einziges Bein hat noch Kontakt zum Schildrand. Die Schildhalter sind hier zu einer tierischen Staffage degeneriert, die die nebensächlich wirkenden klaren Linien der Heraldik in ein dem Zeitgeschmack entsprechendes naturalistisches Ensemble integriert und zum eigentlichen Schwerpunkt des künstlerischen Interesses wird.

Dies ist ein den Spencer zugeordnetes Wappen, sie stehen seit 1765 im Range eines Earls im englischen Peerage-System. Der Schild ist in dieser Abbildung geviert: Feld 1 und 4: silbern-rot geviert, in den roten Plätzen eine von einem goldenen Schragen durchflochtene goldene Fensterraute (engl. "fret"), über allem ein schwarzer, mit drei silbernen Jakobsmuscheln (Pilgermuscheln) belegter Schrägbalken (Schrägrechtsbalken), engl. quarterly Argent and Gules, in the second and third Quarters a Fret Or, over all a Bend Sable charged with three Escallops Argent, Feld 2 und 3: in Schwarz ein silberner Löwe, im silbernen rechten Obereck ein durchgehendes rotes Kreuz, engl. Sable a lion rampant Argent, in a canton of the last a cross Gules. Dabei stehen die Felder 2 und 3 für Churchill und stellen das ältere Wappen der Familie dar (aber nicht das älteste, das in Schwarz einen silbernen Löwen zeigt, von einer roten Schrägleiste überdeckt, engl. Sable a Lion rampant Argent debruised by a Bendlet Gules). Dabei war die rote Schrägleiste eine Brisur, die überflüssig wurde, als das rechte Obereck (canton) mit dem St. Georgskreuz hinzugefügt wurde (canton Argent a cross Gules). Deshalb entfiel 1661/1662 die Brisur zugunsten des Oberecks, eine Wappenbesserung und ein königliches Gnadenzeichen. 1 und 4 stehen hingegen für Spencer, wobei die drei Pilgermuscheln ebenfalls ein Differenzierungszeichen (Brisur) sind, denn ursprünglich war der Schrägbalken ganz schwarz, und andere Familienzweige bekamen andere Zeichen wie z. B. drei goldene Lilien o.ä. Die Helmzier ist die der Spencer, ein wachsender, silberner, rotbewehrter Greifenrumpf zwischen zwei silbernen Flügeln mit doppeltem roten Halsband (a Griffin's Head between two Wings expanded Argent, gorged with a Collar gemel and armed Gules). Die beiden Schildhalter sind heraldisch rechts ein Greif (engl. griffin, n. Lit. per fess ermine and erminois) und links ein Drache (engl. a wyvern, n. Lit. ermine). Die engen Zusammenhänge zwischen den Spencer und den Churchill ergeben sich aus folgender genealogischer Konstellation: Lady Anne Churchill (1682-15.4.1716, Tochter von John Churchill 1st Duke of Marlborough) war die Erbin des Hauses Churchill, weil der einzige Bruder John Churchill Marquess of Blandford am 20.2.1703 in jugendlichem Alter verstarb. Der Titel ging 1722 an John's älteste Tochter, Henrietta Churchill Duchess of Marlborough Fürstin v. Nellenburg (1681-1733) und 1733 an den Sohn der zweitältesten Tochter Anne über, die Charles Spencer 3rd Earl of Sunderland (ca. 1674-19.4.1722) geheiratet hatte, dieser neue Titelträger war Charles Spencer 3rd Duke of Marlborough 5th Earl of Sunderland (22.11.1706-28.10.1758). Er hatte zwar einen älteren Bruder, der starb jedoch vor dem Titelübergang, es handelte sich um Robert Spencer 4th Earl of Sunderland (24.10.1701-1729). Der Sohn von Charles war George Spencer 4th Duke of Marlborough (26.1.1739 - 30.1.1817/1818), der wiederum zum Sohn George Spencer-Churchill 5th Duke of Marlborough (6.3.1766 - 5.3.1840) hatte, der 1817 die Erlaubnis bekam, seinen Geburtsnamen Spencer um den Namen Churchill zu erweitern, um die Erinnerung an seinen berühmten Vorfahren aus dieser Familie lebendig zu erhalten, und dieser war es, der 1817 sein väterliches Spencer-Wappen mit Churchill quadrierte, wobei er aber das Wappen umgekehrt wie hier dargestellt führte, 1 und 4 Churchill, 2 und 3 Spencer, entgegen der hierzulande üblichen Praxis, die erwarten ließe, das väterliche Wappen in 1 und 4 zu sehen, aber schließlich war der Titel eines Herzogs von Marlborough wichtiger als der eines Earls of Sunderland. Warum ist in dem hier vorliegenden Beispiel nun Spencer in 1 und 4 und Churchill in 2 und 3 zu sehen? Es ist eine vor der offiziellen Vereinigung 1817 entstandene Darstellung, und die Anordnung beruht auf der Ehe zwischen Charles Spencer 3rd Earl of Sunderland und Lady Anne Churchill. Deren beider Sohn war Charles Spencer, 3rd Duke of Marlborough (s. o.), zu dem dieses Wappen in dieser Anordnung passen würde, so daß das Wappen des Vaters in 1 und 4 und das der Mutter in 2 und 3 ist. Weitere Zusätze variierten später das vereinigte Spencer-Churchill-Wappen (ein Schildchen: Argent a Cross of St George surmounted by an Inescutcheon Azure, charged with three Fleurs-de-Lys Or). Wie man sieht, erfolgte die offizielle Quadrierung aus Spencer und Churchill im dem Zweig der Familie, der Name und Titel des Duke of Marlborough annahm, andersherum als bei den Spencer. Die Devise lautet "Dieu defend le droit" - Gott verteidigt das Rechte.

Die zweite Abbildung zeigt eine weitere Wappendarstellung aus dem Werk "English Peerage" von 1790 und wurde ebenfalls von Charles Catton gezeichnet und von Francis Chesham gestochen. Die Abbildung ist durch die Unterschrift der Familie der Earls of Chatham zugeordnet, sie haben seit 1766 den Rang eines Earls im englischen Peerage-System inne. Folgt man den Schraffurangaben, ist hier in Rot ein in zwei Reihen von Silber und Blau geschachter Balken zu sehen, begleitet von drei (2:1) goldenen Scheiben, engl. Gules a fess compony counter-compony Argent and Azure between 3 bezants. Das ist jedoch kein korrektes Wappen der Pitt, Earls of Chatham, denn diese führten in Schwarz einen in drei Reihen von Silber und Blau geschachten Balken, begleitet von drei (2:1) goldenen Scheiben (Besanten), engl. Sable a fess chequy Argent and Azure between 3 bezants ("Besanten" sind in der britischen Heraldik immer golden). So findet es sich im Burke und im Rietstap. Eine korrekte Abbildung des Pitt/Chatham-Schildes findet sich im Werk "English Peerage" unter der Bezeichnung "Camelford", einem weiteren Titel, den die Familie Pitt innehatte. Hier ist es jedoch unzutreffend wiedergegeben. Die Pitt waren 1761-1835 Barons Chatham, 1766-1835 Earls of Chatham und 1784-1804 Barons Camelford, dazu 1726-1765 Earls of Londonderry. Die Helmzier ist jedoch korrekt, ein natürlicher Kranich mit goldenem Schnabel und ebensolchen Füßen, den erhobenen rechten Fuß auf einem natürlichen Anker (schwarz mit natürlichem Stock), engl. a crane proper, beaked and membered Or, holding up his right foot upon an anchor erect proper. Als Schildhalter (korrekte Wiedergabe) dienen heraldisch rechts ein Löwe, belegt mit einem Eichenbruch, und links ein Hirsch mit goldenem Geweih und Halsband und davon herabhängender ebensolcher Kette (Rietstap: S.: à dextre un léopard lionné au naturel chargé sur l'épaule d'un gland d'or tigé et feuillé de sinople; à senestre un cerf au naturel ramé, colleté et enchainé d'or). Die Devise lautet: "BENIGNO NUMINE", frei: Mit Gottes Segen.

Die obige Abbildung mit Detailausschnitt zeigt das bereits oben erläuterte Wappen der Spencer-Churchill, Dukes of Marlborough, in allen Details sei auf die obige Diskussion der Inhalte verwiesen. Dieses Werk eines unbekannten Künstlers, entweder ein Bücherzeichen oder wahrscheinlicher eine Seite aus einem Buch, ist ein stilistischer Tiefpunkt, wie insbesondere die völlig unheraldischen, in florale Formen übergehenden Helmdecken und die mißratenen Proportionen zeigen. Heraldische Inhalte werden hier zur Staffage innerhalb eines Ornamentes.

Englische Totenschilde:
Wie in Deutschland auch gibt es in England Totenschilde (funeral hatchments). Dabei gibt es aber einige insulare Besonderheiten:

Quellen, Literatur und Links
Stephen Slater: The Complete Book of Heraldry: An International History of Heraldry and Its Contemporary Uses, Lorenz Books 2002, ISBN: 0754810623 bzw. 978-0754810629
Walter Leonhard: Das große Buch der Wappenkunst, Bechtermünz Verlag 2000, Callwey Verlag 1978
Wappen Spencer:
http://www.europeanheraldry.org/house_of_churchill_and_spencer.html
Wappen Churchill:
http://www.winstonchurchill.org/learn/reference/armorial-bearings-of-wsc
The peerage of England
http://books.google.de/books?id=NFwBAAAAQAAJ
Ein herzliches Dankeschön an Frhr. v. Recum für wertvolle Hinweise
Ein herzliches Dankeschön an Stephen Slater für die Catton-Stiche und für die Drucke.
Genealogien:
Prof. Herbert Stoyan, Adel-digital, WW-Person auf CD, 10. Auflage 2007, Degener Verlag ISBN 978-3-7686-2515-9
Pitt/Chatham:
Burke's General Armory
Rietstap/Rolland
Wappen Pitt: http://www.europeanheraldry.org/house_of__pitt_.html
Stephen Slater: Britische und deutsche Heraldik: Unterschiede, Kleeblatt, Zeitschrift für Heraldik und verwandte Wisenschaften, 02/2012, S. 24-27.

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